Bischof Stecher Gedächtnisverein

Glaube mit Weitwinkel

1993

Zugegeben – es ist nicht leicht, mitten in einer Zeit, die sich in Tragödien überschlägt so etwas wie Aufbrüche der Menschheit zu orten. Aber es gibt sie. So wie ein Golfstrom alle Winterstürme und Orkanwogen des Atlantik übersteht, und dann doch ganze Küstenstriche wohnlicher macht, so gibt es hie und da auch positive Entwicklungen des menschlichen Bewusstseins, die leise und hintergründig durch die Epochen wandern, fallweise durch schwere Katastrophen hindurch, und sich dann doch ausbreiten und ein wärmeres, menschlicheres Klima bewirken. Und wenn ich nun so die Einstellungen, Regungen und Mentalitäten betrachte, mit denen ich aufgewachsen und ins Erwachsenenalter eingetreten bin, und das alles mit dem Lebensgefühl, Sinnen und Trachten von heute vergleiche, dann wage ich trotz allem Wenn und Aber den Satz: Unsere heutige Welt hat einen Zug ins Weite.

Die Breitleinwände und Weitwinkelkameras, die großen Panoramafester, die ungehemmt den Blick in die Landschaft öffnen, die Satellitenaufnahmen von Kontinenten und Wolkenwirbeln über Weltmeeren, die phantastischen Tiefblicke neuester Teleskope in die Abgründe des Universums, die kreisenden Weltraumantennen, die die Signale fernster Energien aufnehmen, das alles sind nur technische Symbole dieser Reise des menschlichen Geistes in größere Horizonte.

 

Neue Weite in Wissen und Weltsicht

Es gibt eine neue Weite in Wissen und Weltsicht. Man spürt sie vom Kinderbuch bis zum Forschungsprogramm auf der Universität. Sie wandert durch Bildungswerke und Kunstausstellungen, sie beherrscht Büchermessen und die imponierenden Computerzentren der Wissenschaften. Dies Kunstfahrt des Geistes geht hinein in bislang unbekannte Tiefen der Menschenseele und Geheimnisse der Bausteine des Lebens, sie greift in Welten hinaus, die so viele Lichtjahrmilliarden von uns entfernt sind, dass sie schon vergangen sind, wenn ihr Licht uns erreicht.

Und es gibt eine neue Weite in den menschlichen Begegnungen. Wir waren noch froh, wenn wir am Gymnasium ein paar Brocken Schulenglisch stottern konnten – heute kehren die 12-jährigen vom Sprachurlaub in Frankreich zurück. Wir sind zu Gast in aller Welt, und alle Welt ist zu Gast bei uns. Täglich treffen wir auf Menschen anderer Sprache, anderer Herkunft, anderer Kultur und anderer Religion. Städtefreundschaften überbrücken Kontinente. Das Wort „hinterwäldlerisch“ hat bei uns kaum noch irgendeinen Sinn. Die abgeschlossenen Idyllen sind verschwunden. Gewiss – das alles kann auch viele Schwierigkeiten und Verunsicherungen bringen, und Gefahren für die Wahrung der eigenen Identität – aber es hat auch ein neues Verstehen gebracht, eine Bereitschaft zur Toleranz, und was einst fremd und unheimlich war, ist nun näher gerückt…

 

Die neue Weite der Kommunikation

Unübersehbar und unüberhörbar ist die Ausweitung des Kommunikationsnetzes. Kontakt mit anderen Ländern sind Fragen von Sekunden. Die Nachrichten umkreisen die Erde immer schneller. Wir haben Blickkontakt mit Washington, Rio und Hongkong. Wir erleben uns heute mit allen Verknüpfungen global, im Guten wie im Schlechten. Das Schicksal von Tropenwäldern entscheidet auch unser Klima, und ein Konjunkturaufschwung bei uns bringt Hoffnung für andere auf der anderen Seite des Globus. Das Verbrechen spannt seine weltweiten Spinnennetze – aber die Nächstenliebe auch. Die Caritas ist aus dem – sicher wichtigen – Bereich des Kleinladens herausgetreten und eine Weltfirma geworden, mit einem Verteiler- und Aktivistennetz, das viele „Multis“ in den Schatten stellt. Man könnte in diese Richtung lange weiter sinnen. Das alles bündelt sich am Ende dieses Jahrhunderts zu einem „Lebensgefühl der Weite“. Die Welt ist groß geworden, manchmal unheimlich groß. In diesen Erfahrungen ist neben dem Faszinierenden auch das Bedrückende. Sie wecken neben den Gefühlen der Überwältigung auch die der Verlorenheit.

 

Weltstunde und Gläubigkeit

Was ist in einem solchen Aufbruch der Menschheit mit unserem Glauben, der durch die Jahrhunderte zu uns herauf gekommen ist, als tiefer, bleibender Wert, aber manchmal auch ein wenig bedeckt vom Staub der Jahrhunderte? Muss er sich in Nischen ducken, weil er mit diesem neunen Lebensgefühl nicht zurechtkommt? Wer so denkt, hat den christlichen Glauben in seinen großartigen Dimensionen nicht recht begriffen. Die Gläubigkeit muss heraustreten aus den bergenden Höhlen des Nur-Traditionellen, sich auf die ganze Großartigkeit seiner Inhalte besinnen und dieses neue Weltgefühl der Weite ergreifen und es mit Sinn und Seele erfüllen. In allen Aufbrüchen der Menschheit, auch in diesem, wird die Brüchigkeit und Unerlöstheit unserer Situation mitgeschleppt. Gerade der Mensch, der sich in weiten, kaum überschaubaren Horizonten weiß und von einer erdrückenden Vielfalt von Kommunikation umgeben ist, erfährt sich als heimatlos.

 

Weite und Geborgenheit

Es gibt in den Psalmen des Alten Testaments immer wieder Stellen, die mich innehalten lassen. Sie atmen beides, die große Weite und die Geborgenheit. So heißt es im 36. Psalm: „Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, deine Treue, so weit die Wolken ziehen…“ Und wenn ich den 139. Psalm lese, schwingen fast Astronautengefühle mit: „Stiege ich zum Himmel empor – bist du da. Wollte ich in der Unterwelt weilen, bist du auch dort. Nähme ich die Schwingen des Morgenrots und ließe mich nieder am äußersten Ufer des Weltmeeres – auch dort wird deinen Hand mich geleiten und deine Rechte mich halten…“

Hier ist sie – die Faszination der Weite und der Geborgenheit, die umso wichtiger ist, je kühner die Reise wird. Und diese beiden Elemente müsste in unserer Zeit auch das Christusbild haben, das wir als moderne Gläubige, die sich nicht einfach im Zeitgeist verlieren, im Herzen tragen sollten. Ich finde dieses Bild am eindrucksvollsten in jener Vision des Auferstandenen, wie sie Johannes auf Patmos schaute. Dieses Bild, das uns in der Geheimen Offenbarung vom österlichen Christus überliefert ist, ist eher unbekannt, darum möchte ich daran erinnern: Johannes hörte eine Stimme wie das Rauschen vieler Wasser. Er wandte sich um und sah ihn aus dem Licht der Unendlichkeit heraustreten und hörte ihn sagen: „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige… Siehe, ich war tot, aber ich leben in Ewigkeit.“

In diesem Christus schwingt alles mit: Die Weite des Universums, die Milchstraßenwirbel und der Tanz der Atome, die Zeiträume des Kosmos und die Entfaltung des Lebens, die Geschichte der Menschheit mit ihren Sternstunden und Abgründen, das Leben und der Tod, das Leid und die Liebe, der Anfang und das Ende, das alles wogt in diesem Christus, der Alpha und Omega ist. Und trotz alledem auch seine ganz menschlich-brüderliche Nähe. Er ist da, auch in unserem gewöhnlichen kleinen Leben. Ich brauche mich nicht einmal umzudrehen, so nahe ist Er mir, wenn ich mich hier an ein paar Zeilen mühe, oder Ihnen, wenn Sie so etwas Alltägliches tun, wie eine Zeitung aufzuschlagen.

 

Bischof Reinhold Stecher in der Tiroler Tageszeitung, Ostern 1993

 

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