Liebe Gläubige!
Wenn ich wie alle Jahre am Beginn des Advents ein kurzes Hirtenwort an Euch richten darf, dann ist das erste, was mich dabei bewegt, ein Gefühl tiefer Dankbarkeit. Ich muss für die 13,8-Millionen-Bruder-in-Not-Hilfe des vergangenen Jahres danken, die inzwischen in einige Schattenwinkel der Welt Licht gebracht haben: in ein Armenspital in Äthiopien, in Sozialstationen und Einrichtungen vielfacher menschlicher Hilfe in den Tschad, nach Peru und in insgesamt 36 andere Plätze der Erde, wo unsere Projekte laufen oder schon durchgeführt sind.
Und heute bitte ich Euch wiederum, diese Tradition der Menschlichkeit in unserem Land Tirol nicht abreißen zu lassen. Wenn jetzt statt der Verlesung dieser dürren Worte ein Film laufen könnte, der uns jene Mütter und Kinder vorstellt, die in der Bannmeile von Bogota in Südamerika zwischen Müllbergen unter unvorstellbaren hygienischen und wohnmäßigen Bedingungen leben müssen, dann wären wahrscheinlich meine weiteren Worte überflüssig. Der Anblick der Wirklichkeit, in der die Axamer Missionsschwester Franziska Mair arbeitet, wäre sicher genug. Angesichts kranker Kinder und hilfloser Mütter, ihrer Verzweiflung und ihrer Hoffnung müsste ich zu niemandem sagen: Bitte, hilf! Aber gerade das ist es, was vom Christen des 20. Jahrhunderts verlangt ist: eine viel feinere, weitreichendere Antenne für das Elend der Welt zu haben und hilfsbereit zu sein, ohne sich dabei selbstgefällig auf die Schulter zu klopfen und ohne den Erfolg und die dankbaren Blicke unmittelbar genießen zu können.
Vielleicht stört den einen oder anderen, dass das erste Adventlied, das der Bischof singt, immer die Bruder-in-Not-Bitte ist. Es ist ganz richtig, dass es im Advent um mehr geht als nur um soziale und karitative Aktionen. Im Advent soll unser Herz auch aus der lauten, oberflächlichen, verwirrenden und belasteten Welt aufbrechen und auf die Wanderschaft gehen - hin zum erlösenden Gott, der ja durch alle Zeiten auf uns zukommt. Aber der Herr hat uns keinen Zweifel darüber gelassen: Er kann die eine Hand, die wir zu Ihm hin ausstrecken, nur ergreifen, wenn unsere andere Hand helfend die Armen sucht. Der Friede, von dem die Engel von Bethlehem in der Heiligen Nacht singen, ist keineswegs nur ein Aufwallen von Kindertraum und flüchtiger festlicher Stimmung, sondern eine Frucht der Liebe, von Gott zu Mensch, von Mensch zu Gott und von Mensch zu Mensch.
Innsbruck, im Advent 1986
Reinhold Stecher
Bischof von Innsbruck
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