Bischof Stecher Gedächtnisverein

Gletscherhahnenfuß

Aus "Der Gletscherhahnenfuß" - Seiten 7-15

Es ist mir klar, dass für die Ouvertüre eines kleinen Buches aus der seelsorglich-besinnlichen Ecke eine botanische Betrachtung etwas absonderlich wirken muss. Aber da im Evangelium unter anderem auch das Erlöserwort steht „Betrachtet die Blumen des Feldes“ (Mt 6,28), wage ich diesen Seitenblick. Meinem Lieblingsmilieu entsprechend konzentriere ich mich mehr auf die Alpinflora. Aber Bergblumenfreunde werden sich wundern, dass ich mich nicht bei den berühmten Stars der Bergwiesen, der steilen Hänge und der Felsbänder aufhalte. Ich gehe diesmal am Edelweiß, dem Enzian und der Alpenrose vorbei. Das wären natürlich die attraktiven Propagandablumen der Bergwelt, bewundert, begehrt und geschützt. Sie geistern durch heroische und gefühlvolle Alpingesänge, dienen als Gasthaus- und Hotelschilder, schmücken alkoholische Markengetränke, gelten als Qualitätssiegel in der Werbebranche und fungieren als politische und militärische Embleme. Diese strahlenden und duftenden Repräsentanten hochalpiner Blütenpracht lasse ich also links liegen, steige noch etwas höher hinauf und bleibe bei einem recht unscheinbaren Blümlein stehen, das auf kurzem Stängel aus Moränengeröll und Felsritzen auf verwegenen Graten hervorlugt. Ich habe diese kleine Blüte selbst auf 3400 Metern angetroffen – manche sagen, sie wage sich bis auf 4200 Meter hinauf. Damit ist der Gletscherhahnenfuß rekordverdächtig. Für Blumensammler ist die winzige weiße Blüte mit dem goldenen Staubgefäßkern ein Nobody. Noch niemand hat sich den Gletscherhahnenfuß stolz auf den Berghut gesteckt. Er verträgt das schlecht. Es gehört zu seinem Wesen, dass er sich für repräsentative Zwecke, für Arrangements und Gestecke nicht eignet. Aber trotz dieser Mängel gehört er zur Gilde der Extrembergsteiger. Und darum zähle ich zu seinen Bewunderern. Es gibt keine Blume, die so verwegen in die Unwirtlichkeit hineinblüht. Ich fühle mich nun verpflichtet, meine besondere Beziehung zum Gletscherhahnenfuß etwas näher zu begründen. Begonnen hat die Sache damit, dass ein lieber Kollege, der es vom Volksschullehrer zum berühmten Naturwissenschaftler gebracht hat, seine bahnbrechenden Forschungen dem Gletscherhahnenfuß widmete. Das ist ein sehr mühsames Unterfangen. Dissertationen über einen exotischen Baum, der im botanischen Garten steht und mit seinen Zweigen vor den Fenstern des Instituts der Universität wedelt, sind einfacher zu bewältigen. So aber musste eine Forschungsstation auf 3000 Meter Höhe errichtet werden, mit feinsten elektronischen Anlagen und Messgeräten, Schreibern und einer raffinierten Blitzschutzanlage, mit Drahtverzweigungen zu den Blüten und Blättern dieses Alpinflorawinzlings. Eines Tages hat mich ein Gletscherflieger mit seiner Piper zur Forschungsstation hinaufgebracht. Es war ein unvergesslicher Tag. Die Morgensonne hat das Leichtflugzeug an den sich erwärmenden Felswänden emporgetragen, wir sind um hohe Gipfel gekreist, von denen Frühbergsteiger gewinkt haben, haben uns eine eisbedeckte Nordwand von der Nähe angesehen, sind über die hohen Grate gequert und schließlich auf Schlittenkufen auf dem Gletscher vor der Station gelandet. Wie mir mein Freund diese höchste Außenstelle der Universität Innsbruck näher erklärt hat, bin ich aus dem Staunen nicht herausgekommen. Es steht natürlich außer Frage, dass ich im Bereich der botanischen Wissenschaft ein völliger Laie bin und meine Eindrücke nur laienhaft wiedergeben kann. Der Gletscherhahnenfuß ist einfach ein bewundernswerter Überlebenskünstler. Das Großklima, in dem er sich behauptet, ist beinahe lebensfeindlich. Die Winter sind lang und hart. Und auch im Sommer kann es über Nacht einen halben Meter Schnee hinwerfen – und es kann Tage dauern, bis die Blüte wieder einen Strahl Sonne erhascht. Es gibt Wetterstürze, eisige Temperaturen, Schneesturm und kalte Nächte. Wenn im Tal drunten ein Gewitterregen fällt, kann hier heroben der Hagel waagrecht um die Wände peitschen. Tiere, die in diesen Höhen hausen, können sich verkriechen oder weiter nach unten verziehen. Der Gletscherhahnenfuß harrt auf seinem Standort aus. Das zarte weiße Blümlein mit den goldenen Staubgefäßen hat keine Fluchtmöglichkeit. Trotzdem schafft es das Überleben und Wiederblühen. Mir wurde gesagt, dass es sogar drei Jahre eingeschneit übersteht. Es ist ein biologisches Wunder, das wahrscheinlich viele Hintergründe hat. Aber eine Ursache habe ich mir gemerkt. Auch wenn das Großklima sehr ungünstig und rau ist, nützen Extrempflanzen wie der Gletscherhahnenfuß ein Kleinklima aus, das sich bei intensiver Sonnenbestrahlung in unmittelbarer Bodennähe zwischen Geröll und in feinen Felsrissen und Steinen entfaltet und das – im engsten Bereich geradezu tropische Wärmewerte entwickeln kann. Diese winzige Zone hoher Temperaturen nützt unser Gletscherhahnenfuß. Darum kann er auch in abgekürzten Sommertagen zum Blühen kommen. Das Großklima kriegt ihn nicht unter. Er ist ein unentwegter Trotzdemblüher im Kleinklima. Vielleicht ahnen Sie jetzt, warum ich diese Blume im unwirtlichen Abseits der Welt auf die Titelseite geholt habe. Sie hat weder das strahlende Leuchten des Edelweißes noch das tiefe Blau des Enzians, noch das flammende Rot der Alpenrose. Aber der Gletscherhahnenfuß demonstriert eine Vitalität, von der wir alle ein wenig mitbekommen sollten. Er fängt ein, was er in den eisigen Höhen an Sonnenbestrahlung kriegen kann, und wahrt seine Chance – und damit intoniert er leise eine Melodie, die durch die Geschichte der einzelnen Menschenschicksale, des Ihren wie des meinen, die Menschheitsgeschichte, der Gesellschaft, der Kirche und des Heils zieht. Der Gott, von dem es heißt, dass er die Liebe ist, wollte nicht nur Liebe. Er wollte eine Liebe, die sich im Widerstand bewährt, die Trotzdem-Liebe. Deshalb hat Gott wohl eine Welt mit Wetterstürzen, Problemen und Belastungen zugelassen – so schwer uns das auch eingeht. Wer von uns hat nicht schon einmal gedacht: Warum hat Gott es denn nicht anders gemacht – harmonischer, konfliktfreier, weniger tragisch, weniger frustrierend, durchschaubarer und gelöster? Er wollte eine Liebe, die trotz allem blüht. Deshalb ist diese unsere Welt, unsere Situation und Existenz eben nicht einfach ein Traumstrand mit angenehmsten Wassertemperaturen, Palmenschatten und ewig heiterem Himmel. Es gibt fast nichts Gutes, Positives, Erfreuliches und Liebenswertes in dieser Welt ohne Barrieren und Widerstand. Der Gletscherhahnenfuß hat natürlich nicht Theologie studiert und die Welträtsel betrachtet, aber ich muss gestehen, dass mich dieses im Bergwind zitternde und zerzauste Blümlein in Tiefen des Universums und göttlicher Heilspläne führt, die man mit seinem armseligen Denken kaum zu betreten wagt. Es ist Ihnen sicher auch schon so ergangen, dass der Blick auf das Kreuz ein grausames Rätsel wird. Warum denn so ein erschütterndes Spiel vor der kommenden Herrlichkeit? Was ist das für ein Gott? Der botanische Winzling auf den steinigen Moränen und ausgesetzten Graten singt hartnäckig und beharrlich die Melodie: Ich blühe trotzdem! Und wer im Anblick von Golgatha in seiner Ratlosigkeit und Verwirrtheit zu diesem Sterbenden lang genug hinaufhorcht, der wird irgendwann aus allem Dunkel heraus die Stimme flüstern hören: Ich liebe dich trotzdem. Der Gletscherhahnenfuß ist ein Lehrmeister, kein Prediger. Er stimmt die Urmelodie des Universums. Es ist doch so, dass wir mehrheitlich das Großklima der Welt als belastend empfinden, selbst dann, wenn wir nicht gerade zu denen zählen, denen es am schlechtesten geht. Aber wir werden so intensiv mit Negativmeldungen versorgt, dass wir mit dem Großklima viel stärker konfrontiert sind als Generationen vor uns. Wenn man die Weltgeschichte betrachtet – war sie ja nie besonders erfreulich. Über die Menschheit sind Fluten von Leid und Rücksichtslosigkeit gegangen. Das Gerede von der „guten, alten Zeit“ ist ja meist nur ein nach rückwärts projizierter Wunschtraum. Das Großklima der Gegenwart springt uns bei jeder Nachrichtensendung an. Da jagt die polare Kaltluft eines rücksichtslosen Kapitalismus über die Welt, dort brüten die Hitzewellen der Fanatismen. Ganze Landstriche armer Länder versumpfen im Morast von Korruption. Tornados des Terrorismus fegen über die Völker und legen breite Schneisen in friedliches Land. In den reichen Ländern lässt die Spaß- und Konsummentalität die Seelenlandschaften versteppen, weil der Grundwasserspiegel tragender, gültiger Werte absinkt. Und manchmal scheint das Ozonloch globaler Dummheit unerträglich groß zu werden. Oft sind wir von den Belastungen des Großklimas zu Recht verstört und nehmen über unserem Jammer die Aufhellungen gar nicht wahr. Auch in der Kirche muss man nach vielen Kontakten mit Gläubigen, Entfremdeten und Fernstehenden zugeben, dass das Großklima von vielen als gestört empfunden wird. Es gibt Spannungen, unbedachte Härten, manchmal den Verlust seelsorglicher Bodenhaftung und Nebelbänke der Realitätsverweigerung. So manchen engagierten Christen stört das Festhalten an Traditionen, die sich keineswegs auf Christus berufen können. Hie und da übt man sich in einer Sprache, die das Herz nicht erreicht. Und Skandale sind fast an der Tagesordnung. Leider vergisst man über Ärger und Frust, dass es Strahlung gibt, die durch alle Wolken dringt, und dass immer wieder Sonne durchbricht. So kommen viele in Versuchung, sich nicht mehr zu engagieren und in Enttäuschung über das derzeitige Großklima in Welt und Kirche sich in das Reduit ihres Privatgärtleins zurückzuziehen, wo sie nur ihre Rosen und Paradeiser züchten. Die Schwierigkeit ist dabei nur, dass man in Resignation und Ressentiment nicht zum großen Glück kommt. So verständlich es ist, dass manche müde abwinken und sagen „Mir reicht’s“ und „Ohne mich“ und „Ich sehe keine Perspektiven mehr“, hinter dem Zaun des privaten Schrebergartens wollen die Geranien der Identitätsfindung auch nicht so recht gedeihen und das Spalierobst befriedigender Lebenserfüllung reift nicht recht ab. „Nein“, sagt der Gletscherhahnenfuß, „du musst in die widrige Welt hineinblühen. Der Wind, dem ich ausgesetzt bin, ist auch kein Blumenschmeichler. Aber ich erhasche meinen Anteil Licht und Sonne – und ich nütze ein Kleinklima in meiner unmittelbaren Umgebung und ergreife die Lebenschance, die sich bietet, und besiege damit den kalten Hauch der Höhen. Mich hat noch keine Klimaschwankung kleingekriegt …“ Aus diesem Grund habe ich mir den Gletscherhahnenfuß als Symbol für die bescheidene, unverdrossene, nicht berechnende und hartnäckige Entfaltung der Liebe im Alltag gewählt. So bin ich mit der Erinnerung die Lebensrouten abgegangen zu den unzähligen Stellen, wo mir die Trotzdemblüher begegnet sind. Sie haben mir ja selbst oft den Mut zum Weitermachen geschenkt. Es sind meist begrenzte Episoden. Der Strauß, der da zusammenkommt, ist nicht gerade pompös. Aber ich habe schon gesagt, dass sich der Gletscherhahnenfuß nicht für üppige Arrangements in Festsälen eignet. Die schlichte Liebe, die blüht, ist bewundernswert. Und wer das Gefühl hätte, die Dinge seien doch gar zu mickrig, unbedeutend und ineffizient und derartige Aktivitäten würden die Welt, wie sie ist, auch nicht viel verändern, den muss ich auf ein Wort dessen hinweisen, der in Sachen Menschenliebe sicher die höchste Kompetenz hat. Der Herr hat einmal das Glas Wasser gelobt, das man einem anderen reicht … (Mk 9,41).

© Tyrolia-Verlag, Innsbruck.
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